Sonntag, 24. Februar 2013

Rede gegen Prinovis-Schließung

Tausende gegen Bertelsmann

Rede auf der Kundgebung in Itzehoe am 23. Februar 2013 gegen die Schließung des Itzehoer Prinovis-Werks

Zu Beginn der Kundgebung läuteten die Glocken aller Kirchen in Itzehoe und umliegender Gemeinden
Wenn Glocken läuten, dann um zur Kirche zu rufen oder, leiser, um die Stunde zu schlagen. Aber „fünf nach zwölf“? Heute ist es wie in den alten Zeiten, hier wie anderswo, wenn die Glocken zu einer so „ungeraden“ Zeit läuten: Da riefen und rufen die Glocken die Menschen zusammen, in der Not, bei Brand, bei Flut, Feuer, schwerem Sturmschaden, wie eben heute. Denn es sind hier alle zusammen gekommen, weil Not ist, weil die Not gewendet werden muss.

Darin liegen zwei Botschaften: Die erste Botschaft richtet sich an Euch alle aus dem Werk und an die, die für das Werk arbeiten. Diese Botschaft heißt: Ihr seid nicht allein – eine ganze Stadt, eine ganze Region ist mit Euch! Dies ist der Tag, an dem wir diese Stadt so erleben, wie alle Euch am 6. Februar, bei der Verkündung der Werkschließung, erleben konnten: Aufstehen, einander unterhaken, die Starke stützt den Schwachen, der Starke wartet auf die Schwache. Stärke kommt ab jetzt nur aus Gemeinsamkeit.
Und das gibt das Bild für die zweite Botschaft, die hinaus ins Land geht – und die wir schon erfolgreich bis zu Bertelsmann, nach Berlin getragen haben. Diese Botschaft lautet: „Schaut auf diese kleine Stadt in Schleswig-Holstein; sie hat ungeheure Schläge erfahren, aber in allem, was man schlecht reden oder schreiben mag – diese Stadt und die Region halten in der Not zusammen, diese Stadt – steht auf!“
Ihr aus dem Werk, sei es an den Maschinen, in der Kantine oder in der Verwaltung, ob Ihr Leiharbeiter seid oder an Werkvertragsmaschinen arbeitet: Ihr seid nicht alleine! Schon heute ist nicht nur die Stadt bei Euch, es sind auch viele von weither gekommen. Ich habe sie gesehen, ich weiß, dass sie da sind: Von den „Kundenfirmen“ aus Hamburg, aus den Verlagen, Gruner + Jahr, aus der Spiegel-Gruppe. Hier sind Kollegen der Financial Times Deutschland, die einen bitteren Kampf für einen fairen Sozialplan führen müssen. Hier sind Menschen aus den Prinovis-Standorten in Deutschland, Dresden, Ahrensburg, es sind Kollegen von Kiel  bis Rostock da. Leider verhindert ist die wunderbare Rosa Calderon aus Barcelona, Präsidentin des Europäischen Betriebsrates von BE Printers/Prinovis, die uns so oft und zuletzt in Berlin beigestanden hat. Sie lässt Euch alle herzlich grüßen.
„Fünf nach zwölf“, das könnte man so verstehen, wie es in einem – wirklich guten Artikel – hieß: „Totentanz“. Aber das ist es nicht, denn „fünf nach zwölf“ heißt – Ja, eine Geschichte, eine lange Geschichte geht zu Ende. Was das bedeutet, kann man heute noch gar nicht verarbeiten. Aber es beginnt auch eine andere, eine neue Geschichte. Wann war das Ende, wann der Anfang?
Ich spreche von der Zäsur, dem harten Schnitt, mit dem man uns – dem Betriebsrat und uns als Gewerkschaft – am 1. Februar erklärte, die Schließung (und zwar als harter Schnitt im Sommer 2014) sei unausweichlich. Zwei Monate hatten wir Gespräche geführt, vergeblich. Keine einzige Konzession. Ich spreche vom 3. Februar, als ich diese Nachricht unseren Mitgliedern überbringen musste: „Wir haben es nicht geschafft“. Und ich spreche vom 6. Februar, als in der Betriebsversammlung vor mehr als 600 Beschäftigten diese Botschaft durch den CEO verkündet wurde, aber seine Rede im Tumult abbrach. An diesem Tag jedoch, dem 6. Februar, begann schon die neue Geschichte.
Welche Geschichte endet? 134 Jahre Jahre Gruner Druck, davon 50 Jahre Gruner + Jahr in Itzehoe, eine Geschichte, die ihre Ursprünge hat in der großen Geschichte der bundesdeutschen Presse nach dem zweiten Weltkrieg: Itzehoe als Druckort der „Sturmgeschütze der Demokratie“ – erst der „Stern“, erheblich später der „Spiegel“. Diese Geschichte ist beendet, sie ist schon lange verendet.
Vor bald 30 Jahren habe ich mich bei Gruner + Jahr in Hamburg vorgestellt, ich wurde eingestellt. Vor bald 29 Jahren habe ich hier vor dem Werk zum ersten Mal Streikposten gestanden. Ich kenne so viele aus all den Jahren danach. Ich kenne diese Geschichte von innen und außen. All das ist zu viel, um es in ein paar Worte zu fassen. Aber für das, was vor acht Jahren aus Gruner Druck wurde, nämlich Prinovis, hat der frühere Betriebsratsvorsitzende Klaus Hillmer in einem Leserbrief an die Norddeutsche Rundschau die richtigen Worte gefunden. Ich lese daraus vor:
„Einen ganz dicken Hals bekomme ich aber, wenn ich die Begründung des derzeitigen Konzernchefs Dr. Bertram Stausberg höre: ‚Wir haben fünf Druckereien im Konzern, die mehr oder minder das Gleiche können. Aufgrund fehlender Aufträge sind alle nur zu 80 Prozent ausgelastet. Mit 80 Prozent Auslastung kann man eine Druckerei nicht wirtschaftlich betreiben.‘ Dabei wird verschwiegen, dass der Bertelsmann-Konzern seit der Gründung von Prinovis in 2005 mit Fehleinschätzungen und -entscheidungen erheblich zu den bestehenden Überkapazitäten beigetragen hat“. Und dann listet Klaus alles auf, was zu dem Desaster heute geführt hat.
Klaus Hillmer hat Recht. Die verhängnisvolle Strategie, in einem schrumpfenden Markt einen Standort gegen den anderen Standort zu hetzen, eine Konzernbranche gegen die andere, hat die Lage lebensbedrohlich verschärft. Dabei wechselten die Führungen, die „CEOs“. Man leistete sich bei Bertelsmann-Prinovis sogar den „Spaß“, mitten in zugespitzten Verhandlungen einfach mal den Verhandlungsführer auszuwechseln. Wo sind die eigentlich alle geblieben? Wer ist noch da, der beim Wort genommen werden kann? Die Beschäftigten aus dem Werk haben sie kommen und gehen sehen.
Geblieben sind immer nur: die Familie Mohn und die Familie Springer, die Eigentümerinnen, zusammen geschätzt auf ein Vermögen von mehreren Milliarden Dollar. Die sind ganz weit weg und schicken einen Manager nach dem anderen ins Feld. Aber am Ende entscheiden solche Familien – so reich, wie es sich kaum jemand in Itzehoe vorstellen kann – über das Schicksal von Tausenden von Familien, über das Schicksal einer ganzen Stadt, einer ganzen Region.
Solche Familien haben ungeheure Reputation in der Öffentlichkeit: so viel Stiftungen, so viel Gutmenschlichkeit.  Was bleibt davon übrig – für Itzehoe, für Steinburg, für die Menschen, die hier leben und nicht nur überleben wollen?
Ich habe gesagt: am 6. Februar – der Betriebsversammlung im Werk –  hat eine neue Geschichte begonnen: Eine Belegschaft stand auf, so wie Itzehoe heute aufsteht. Eine Belegschaft, die über Jahre hin und her gerissen war über die Frage, was ist das Richtige und was ist das Falsche. Eine Belegschaft, die Opfer brachte, aber sich den Stolz und das Selbstbewusstsein nicht nehmen ließ. Diese Belegschaft wurde immer wieder gedrückt, zerrissen, bis an die Grenze der Demütigung. Aber in der Not stand und steht sie zusammen. So wie alle heute hier vom Werk zum Platz zusammen marschiert sind. In der Presse wird es immer wieder zitiert: „Es passt kein Blatt dazwischen“.
Und es ist diese Macht der Gemeinsamkeit, die nicht Wunder, aber Wunderbares schafft. Es ist die Macht dieser Gemeinsamkeit, die dazu geführt hat, dass eine Delegation von 100 Beschäftigten am vergangenen Dienstag noch nachts in zwei Busse stieg, nach Berlin gefahren ist. Es ist die Macht dieser Gemeinsamkeit, die etwas Wunderbares bewirkt hat: Zum ersten Mal in der Geschichte dieses Weltkonzerns musste ein Vorstandsvorsitzender seine Konferenz verlassen, die Straßenseite wechseln, durch Matsch und Schnee – er musste zu uns kommen, nicht wir zu ihm!
Und auch das fügt sich ins Bild von heute: Eine kleine Delegation einer großen Belegschaft, für eine kleine Stadt in Schleswig-Hostein (die heute sehr groß geworden ist), hat die Botschaft hinaus geschickt: Es ist vorbei mit den Rentabilitätsrechnungen, es ist vorbei mit demütigenden Gesprächen über Zahlen und derlei; es geht ab jetzt nur um Eines: „Alles, was Ihr braucht!“ Alles, was Ihr braucht, was die Stadt braucht, was die Region braucht.
Denn jetzt geht es nicht mehr allein um Kapital und Arbeit – Arbeitsplätze werden in unvorstellbarer Größe ausgelöscht. Bertelsman geht, aber die Menschen bleiben. Jetzt stehen Menschen gegen Kapital. Das ist das Hochpolitische dieses Kampfes: Worüber die Bertelsmann-Stiftung so gern räsoniert, die sogenannte „Bürgergesellschaft“ – die steht hier gegen Bertelsmann auf.

Das prägt dann auch unsere Forderungen:
  •  Hohe Abfindungen, damit Menschen ihre Existenz sichern können,
  •  Langfristige, gut finanzierte Transfermaßnahmen, also mittelfristig abgesicherte Qualifizierung,
vor allem aber:
  •  Investitionen des Konzerns in gute Arbeit hier in der Region – und nicht nur Jobvermittlung nach Gütersloh oder Bogota oder anderswohin.
Wir von ver.di treten an die Seite des Betriebsrates, indem wir diese Forderungen für alle erheben. Wir fordern von Bertelsmann die Einbeziehung von Leiharbeitern und Werkvertragsarbeitern in die Ausgleichsmaßnahmen. Auch deshalb werden wir die Verhandlungen als Gewerkschaft für einen Sozialtarifvertrag führen. Das haben die ver.di-Mitglieder einstimmig so beschlossen.
Die Dreiklassen- und sogar Vierklassenbelegschaft bei Prinovis wird nicht mehr akzeptiert. Wenn das Kapital sich von Arbeitskraft trennt, bleiben die Menschen. Sie sind alle gleich in selber Not. Auch hier darf kein Blatt dazwischen passen.
Herr Rabe hat in Berlin bislang nur Andeutungen gemacht. Ein Angebot ist das nicht. Damit aus seinen Worten Taten werden, müssen wir weiter alles tun, um den Druck auf den Konzern zu erhöhen. Dies gilt nicht nur für alle im Werk, sondern für die Stadt, die Region. In den vergangenen Wochen ist hier diese Gemeinsamkeit entstanden – über alle Parteigrenzen hinweg, von der CDU bis zur Linken – die uns in diesem Kampf stärkt. Und deshalb ist es auch gut, dass heute Herr Meyer für die Landesregierung bei uns ist. Es wird Zeit, dass wir von der Regierung offene klare Worte hören.
Denn wir haben einen schweren Weg vor uns. Den Anfang haben wir gemacht, wir waren in Berlin, wenigstens symbolisch sind wir heute aufgebrochen auf diesem Weg mit dem Marsch vom Werk hierhin. Wir haben jetzt schon viel bewirkt. Wir sehen es heute hier, man kann es spüren. Aber der Weg vor uns wird schwer sein.
Wir können ihn nur gehen in der Gemeinsamkeit, die wir heute erleben. Wir können ihn gehen, wenn Ihr auf Euch aufpasst und auch aufeinander aufpasst. Es gibt keinen Grund, in der Wut nachzulassen, aber wir brauchen auch Geduld und Klugheit. Wut darf nicht in Verzweiflung umschlagen. Heute erleben wir ein weiteres Mal, dass unsere Entschiedenheit, das Selbstbewusstsein dieser Belegschaft, der Zusammenhalt in Stadt und Region uns weiter bringt.
Heute und hier bewahrheitet sich, was wir in Berlin durch die Lautsprecher angekündigt haben: Bislang musste man sagen „Bertelsmann gegen Tausend“, aber jetzt können wir sagen: „Tausende gegen Bertelsmann“.
Wir sind auf dem Weg, die in Gütersloh haben Euch unterschätzt. Jetzt wächst dort ein wenig Respekt – und den werdet Ihr Euch weiter verschaffen. Garantiert. Morgen, übermorgen, in den nächsten Wochen, Monaten. Wir werden weiter gehen, nicht aufhören, und wir werden bis nach Gütersloh gehen, bis ein faires Angebot auf dem Tisch liegt.
Aus allem ziehen wir eine alte Lehre, und wir erzählen sie allen, die wir unterwegs treffen. Sie steht, eingemeißelt in das Denkmal in Dublin für Jim Larkin, den legendären irischen Gewerkschafter. Sie lautet:
„Die Mächtigen sind nur so groß, weil wir auf den Knien sind – erheben wir uns!“ Ihr habt Euch erhoben, und jetzt steht eine Stadt auf.

Wir gehen los, zusammen.

Glückauf!

https://medien-kunst-industrie-hamburg.verdi.de/2013/februar/rede-von-martin-dieckmann-auf-demo-itzehoe