Mittwoch, 6. Juli 2011

Bewertung zum Tarifergebnis in der Druckindustrie

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
wieder einmal haben Tausende Beschäftigte der Druckindustrie wochenlang couragiert und engagiert für den Erhalt ihrer wichtigsten Arbeitsbedingungen gekämpft. Mit Erfolg! Und das war alles andere als selbstverständlich. Die Druckunternehmer haben nach jahrelanger Vorbereitung und einer beachtlichen Kampagnenplanung mit Flugblättern, Öffentlichkeitsarbeit, betrieblichen Einschüchterungen und Drohungen und massiven Spaltungsversuchen Anlauf genommen, um die ihnen verhasste 35-Stunden-Woche ins Reich der Geschichte zu verbannen. Wären die Forderungen der Arbeitgeber nach Einführung der 40-Stunden-Woche und Absenkung der Helferlöhne betrieblich umgesetzt worden, hätten den betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern um bis zu 30 Prozent verschlechterte Arbeitsbedingungen gedroht. Nimmt man die Forderungen des Bundesverbandes Druck und Medien (bvdm) nach Verschlechterung der tariflichen Maschinenbesetzung zur geforderten Arbeitszeitverlängerung hinzu, wären unmittelbar und zusätzlich zu dem ohnehin stattfindenden Personalabbau tausende Arbeitsplätze gefährdet gewesen.


Unsere Ziele haben wir erreicht
Der „bvdm“ war in dieser Tarifrunde mit dem Ziel angetreten, deutliche Verschlechterungen des Manteltarifvertrages (MTV) durchzusetzen. In fünf Verhandlungsrunden haben uns die Arbeitgeber damit gedroht, dass es keinen MTV mehr geben werde, wenn ihr Ziel einer deutlichen Kostensenkung nicht erreicht werde. Dieses Ziel haben sie verfehlt. Wir Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter waren mit dem Ziel angetreten, dass diese Tarifrunde unter dem Strich keine Verschlechterung des Manteltarifvertrags für die Beschäftigten mit sich bringen durfte. Dieses Ziel haben wir zu 100 Prozent erreicht. Wir haben deutlich machen können, dass wir es ernstmeinen und im Zweifel ausdauernd für unser Ziel kämpfen würden.
An dieser Stelle darf jedoch nicht verschwiegen werden, dass für diesen Erfolg auch ein Preis gezahlt werden musste, nämlich das Lohnabkommen, das nur im Jahre 2012 eine tabellenwirksame lineare Erhöhung der Einkommen um 2,0 Prozent vorsieht. Besonders bitter sind die lange Laufzeit von 33 Monaten und die Einmalzahlung von 150 Euro im Jahr 2013. Es ist von heute aus schwer einzuschätzen, wie sich die Lebenhaltungskosten über diesen Zeitraum entwickeln. Wir gehen davon aus, dass wir in den Jahren 2011 bis 2013 eine jährliche Preissteigerungsrate von knapp über zwei Prozent haben werden. Mit diesem Lohnabkommen dürfte sich also ein Reallohnverlust von ca. 4 Prozent ergeben.
Warum sprechen wir angesichts dieser Tatsache dennoch von einem Erfolg? Die folgende Gegenrechnung für alle anderen denkbaren Szenarien in dieser Tarifauseinandersetzung soll die Gefahren und Risiken aufzeigen.

Die ver.di-Forderungen konnten nicht durchgesetzt werden!?
Vor der Auseinandersetzung mit den Szenarien noch ein Wort zu unseren Forderungen. In Erinnerung sei gerufen, dass nicht ver.di den MTV gekündigt hat, sondern der „bvdm“, und zwar mit dem Ziel, ihn zu verschlechtern. Die ver.di-Beschlusslage und die an den „bvdm“ schriftlich und mehrfach mündlich übermittelte Botschaft zu dieser Tarifrunde war folgende:

Die Kündigung des Manteltarifvertrages war falsch
ver.di hält die Kündigung des Manteltarifvertrages durch den „bvdm“ für einen schweren Fehler. Diese Kündigung und die Forderungen des „bvdm“ kommen zu einer Zeit, in der wie selten zuvor Arbeitsplätze vernichtet werden, Verdrängungs-und Preiskrieg in der Branche tobt und sich erst allmählich eine konjunkturelle Erholung in der Branche breitmacht. Mit der Kündigung des Manteltarifvertrages und den Forderungen provoziere der bvdm eine Großauseinandersetzung, für die er die Verantwortung zu übernehmen habe.
ver.di hat die Rücknahme der Kündigung des MTV gefordert. Für den Fall, dass der „bvdm“ die Kündigung und seine Forderungen aufrechterhalten würde, hat ver.di eigene Forderungen in die Verhandlungen eingebracht. Ziel von ver.di war es, dass es unter dem Strich für die Beschäftigten keinen verschlechterten MTV geben dürfe. Das war unsere durchgehende Verhandlungslinie.

Annäherung der Verhandlungspositionen war nicht möglich
Über fünf Verhandlungsrunden wurden, mal mehr, mal weniger im Reißverschlussverfahren, unsere und die „bvdm“-Forderungen verhandelt. Dabei hat der „bvdm“ aber stets betont, dass es zu keinen Kostenbelastungen für die Unternehmen kommen dürfe, und wir haben stets unterstrichen, dass es zu keinem Minusgeschäft für die Beschäftigten kommen dürfe. Es ist sicherlich nicht schwer, sich vorzustellen, dass es erstens schwierig war, mit diesen Verhandlungspositionen eine Annäherung hinzubekommen, und zweitens schier unmöglich, materiell die Forderungen des „bvdm“ und unsere in ein ausgeglichenes Verhältnis zu bringen.
Jede von uns vorgebrachte Forderung, selbst wenn sie nur kosmetischen Charakter gehabt hätte, hätte an anderer Stelle im Mantel Preise gekostet. Dazu hatten wir keinen Auftrag. Im Gegenteil war die klare Ansage der Tarifkommission, dass es nach Möglichkeit keine Kompensationen geben darf.

Tarifrunde war für ver.di eine Abwehrauseiandersetzung
Diese Tarifrunde 2011 war eine Abwehrauseinandersetzung! Als solche haben wir sie geführt und erfolgreich bestritten. Wir haben unsere Forderungen aber damit nicht aufgegeben. Genauso wenig, wie der „bvdm“ noch aktiv an der Einhaltung des Flächentarifvertrages arbeitet.
Überall dort, wo Belegschaften bedroht und erpresst werden, wo Tarifflucht praktiziert wird und wir gewerkschaftlich durchsetzungsfähig sind, werden wir unsere Forderungen nach gleicher bezahlung für gleiche Arbeit, auch für Leiharbeitnehmer/innen, nach Entlastung älterer Arbeitnehmer, nach Qualifizierung und angemessener Bezahlung auf den Tisch legen und versuchen, sie durchzusetzen.


Wo bestanden oder bestehen Risiken?

  1. Arbeitszeitverlängerungsoption
    Hätten wir bei der Arbeitszeit nachgegeben, hätte jede Stunde umgesetzte unbezahlte Arbeitszeitverlängerung einen Lohnverlust von 2,8 Prozent mit sich gebracht. Bei fünf Stunden unbezahlter Verlängerung der Arbeitszeit wären das mehr als 14 Prozent gewesen. Alle Erfahrung zeigt, dass eine betriebliche Öffnungsklausel verbreitet dazu führt, dass Betriebsräte und Belegschaften dazu erpresst werden, diese Öffnungsklausel betrieblich anzuwenden.
    Selbst wenn eine solche Öffnungsklausel mit Beschäftigungssicherung vereinbart würde, wäre ein unübersehbarer Schub an unmittelbaren und mittelbaren Arbeitsplatzverlusten die Folge.
    In den Betrieben mit Beschäftigungssicherung zunächst durch Fluktation, Nichtübernahme von Auszubildenen, Personalabbau durch Aufhebungsverträge und Altersteilzeit usw. In den Betrieben ohne Öffnungsklausel würde verbreitet die gleiche Situation entstehen – mit dem Unterschied, dass hier auch betriebsbedingt entlassen werden dürfte. In den Betrieben und Teilbranchen der Druckindustrie, in denen der Verfall der Preise für Drucksachen besonders stark ist, würde unbezahlte Arbeitszeit sofort für eine neue Dynamik im Preiskampf und im Verdrängungswettbewerb sorgen und die Lohndumping-Abwärtsspirale verschärft in Schwung bringen.
  2. Abgesenkte Helferlöhne für Neueingestellte
    Der bvdm hatte eine zweite Lohntabelle für neu eingestellte Helfer/innen gefordert, die bis zu 15 Prozent niedrigere Löhne vorsah. Im Gegenzug bot der „bvdm“ an, dass Leiharbeit für die Bereiche ausgeschlossen würde, in denen die abgesenkten Helferlöhne angewendet werden.
    Wären wir diesen Weg mitgegangen, hätten wir eine Welle an Ausgründungen von Helfertätigkeiten erlebt, um auch heute beschäftigte Helfer in die abgesenkte Tabelle zu drängen. Die Folge wäre eine Lohnsenkung auf breiter Front gewesen, der auf juristischem Wege nicht beizukommen wäre.
    Wenn man sich dem Gedanken des Tarifschutzes für „gefährdete“ Beschäftigtengruppen nähert, dann muss ausgeschlossen werden, dass im Wege von Ausgründungen, Werkvergabe und Leiharbeit etc. Tarifflucht organisiert werden kann. Eine neue Lohnuntergrenze müsste so gestaltet werden, dass sie nicht unterschreitbar ist. Dazu ist der „bvdm“ nicht bereit.
  3. Maschinenbesetzung
    Die von den Arbeitgebern geforderte Absenkung der Maschinenbesetzung im Zeitungs-und Tiefdruck hätte zur Folge gehabt, dass ein Drittel weniger Drucker an den Maschinen eingesetzt würden. Und das unabhängig davon, ob es sich um alte oder neue Druckmaschinen handelt. Die Folgen wären Beschäftigungsabbau, Leistungsverdichtung und eine Zunahme gesundheitlicher Beeinträchtigungen.
  4. Längerer tarifloser Zustand
    Die Drohung des „bvdm“, keinen Tarifvertrag mehr zu unterschreiben, der keine Verschlechterungen (sie nennen das ja verharmlosend „Kostensenkung“) enthält, war ernstzunehmen. Eine sich noch über Monate hinziehende Tarifauseinandersetzung hätten wir zwar nicht gescheut, aber sie wäre auf Dauer mit Risiken verbunden gewesen.

Spaltungsversuchen widerstanden
An dieser Stelle muss erwähnt werden, dass es dem „bvdm“ nicht gelungen ist, die Front der Streikbetriebe zu spalten und zu zerreiben, indem sie die Zeitungsbeschäftigten von der Arbeitszeitverlängerung ausnehmen wollten. Nach diesem Angebot des „bvdm“ haben sich unverändert Belegschaften aus Zeitungsbetrieben an den Streiks beteiligt. Damit hatte der „bvdm“ nicht gerechnet. Allerdings zeigen Erfahrungen, dass ein Jahre andauernder tarifloser Zustand irgendwann dazu führt, dass Belegschaften unter immensen Erpressungsdruck geraten und betrieblich Tarifschutz einfordern und anstreben. Erste Streikbetriebe in Bayern und bei der Holzbrinck-Gruppe haben bereits in der laufenden Tarifrunde 2011 Haustarifregelungen mit der unveränderten Wiederinkraftsetzung des MTV und einer Übernahme eines Flächen-Lohnabkommens angeboten. Angebote, die wir als Organisation nicht oder nur schwer ablehnen können, weil sie unserer Zielsetzung in der Fläche entsprechen.
So schön dieses Nachgeben von einzelnen Arbeitgebern jeweils ist, so gefährlich ist die Zunahme dieser Haustarife für die gewerkschaftliche Durchsetzungskraft in der Fläche. Begibt man sich auf einen solchen Weg, gibt es irgendwann nur noch betriebsindividuelle tarifliche Lösungen, die es immer schwerer machen, gleiche oder vergleichbare Regelungen zu vereinbaren. Das Prinzip „gleiche Arbeitsbedingungen für gleiche Arbeit“ und die Solidarität innerhalb der Branche wären gefährdet.
Aus diesem Grund müssen wir immer alles daransetzen, wieder zu Branchentarifverträgen zu kommen, aber nicht um jeden Preis. Der Preis, den wir 2011 haben zahlen müssen, war ein schlechtes Lohnabkommen. Zugegeben! Aber angesichts der drohenden Einschnitte und Risiken ein vertretbarer Preis.

Fazit
Die Belegschaften der Druckindustrie haben das verstanden. Belegschaften aus den unterschiedlichsten Teilbranchen und mit den unterschiedlichsten wirtschaftlichen und strukturellen Bedingungen haben wochenlang Seite an Seite für das gleiche Ziel gekämpft und den gezielten Spaltungsversuchen der Arbeitgeber getrotzt. Das fordert Hochachtung und Respekt.


Breite Geschlossenheit führt zum Erfolg
Dabei wurden wertvolle und einmalige Erfahrungen gemacht. Viele Kolleginnen und Kollegen aus Verlagen haben sich solidarisiert oder gemeinsam mit Druckereibeschäftigten und Zeitungsredakteur/innen für einen eigenen Tarifvertrag gekämpft bzw. kämpfen noch. Nach fast drei Jahrzehnten beinahe historisch zu nennen ist der gemeinsame Kampf mit den Redakteurinnen und Redakteuren. Nicht zuletzt durch diese gegenseitige Unterstützung und solidarischen gemeinsamen Aktionen konnten wir am Ende erfolgreich sein. Das sollte – auch im Blick auf künftige Tarifauseinandersetzungen – nicht wieder in Vergessenheit geraten,. Wir wünschen unseren Kolleginnen und Kollegen in den Redaktionen und den freien JournalistInnen einen ebenso erfolgreichen Abschluss.
Das Ergebnis in der Druckindustrie ist selbst mit dem schlechten Lohnabkommen beachtlich. Das gilt gemessen an den materiellen Verlusten, wenn wir hinsichtlich der geforderten Opfer nachgegeben hätten. Aber auch hinsichtlich der Risiken bei der Weiterführung des Tarifkampfes um einen besseren Lohn. Kalkulierbare Arbeits-und Einkommensbedingungen auf einem anständigen Niveau für die nächsten drei Jahre sind leider keine Selbstverständlichkeit mehr in der Druckindustrie. Sie mussten mit hartem Einsatz verteidigt werden. Es hat sich gelohnt!


Berlin, 5. Juli 2011
Bundesfachbereich Medien, Kunst und Industrie